Vibeke Walter hat sich für „Aktiv am Liewen“ mit Marcel Steffen, einem ausgewiesenen Self-Defense-Experten, unterhalten, um herauszufinden, welches Verhalten und welche Techniken gerade Senioren lernen können, um sich sicherer zu fühlen und sich besser schützen zu können. Ende März haben RBS-Mitglieder die Möglichkeit, sich einem Self-Defense Workshop von Cid-Fraen an Gender anzuschließen (siehe Details S. 41). Bei ausreichend Interesse sind in Zukunft weitere Selbstbehauptungskurse in Zusammenarbeit mit der Polizei geplant.
Die von den Präventionsabteilungen der Polizei landesweit durchgeführten „Selbstbehauptungskurse 50+“ vermitteln auf komplementäre Weise Theorie und Praxis – zum einen das nötige Wissen, zum anderen körperliche „Handgriffe“ – um im Alltag souveräner aufzutreten. Eigens ausgebildete „Seniorensicherheitsberater“ vermitteln in dieser Hinsicht wichtige Basisinformationen: Wie funktioniert die Polizei? Wer sind im Notfall meine Ansprechpartner? Was sind gängige Fehler, die ich vermeiden kann? Dazu zählen z.B. das Abheben größerer Geldbeträge bei der Bank oder das arglose Öffnen der Haustür, ohne sich zu vergewissern, wer vor einem steht.
Ganz konkret zur Sache geht es dann im praktischen Teil, der von Mitgliedern der 1978 gegründeten Luxemburger Vereinigung „Self-Defense“* kostenlos und ehrenamtlich durchgeführt wird. Hier können Senioren an einem „Dummy“ zunächst einmal ausprobieren, welche Wirkung ein von ihnen ausgeführter Schlag hat.
„Die meisten sind überzeugt, sie hätten richtig fest zugeschlagen und stellen dann fest, dass dem entweder gar nicht so ist oder dass es ihnen selbst wehtut. Wir zeigen ihnen einfache Techniken, mit denen man sich auch als älterer Mensch erfolgreich zu Wehr setzen kann. Man darf den Teilnehmern allerdings auch keine falsche Sicherheit vermitteln, wir bilden in den sechs bis acht Stunden Kurs natürlich keine Karatekämpfer aus“, erklärt Marcel Steffen, seit Januar pensionierter Polizeibeamter und als Präsident von „Self-Defense“ ehrenamtlich mit viel Engagement und Begeisterung in den Schulungen aktiv.
Das eigene Auftreten, die Art und Weise, wie man sich in der Öffentlichkeit bewegt, sind dabei die ersten elementaren Prinzipien. Ohne sich dessen bewusst zu sein, nehmen manche Menschen eine potentielle Opferrolle ein und strahlen diese auch aus. Selbstbewusste Körpersprache ist das A und O und wird in entsprechenden Rollenspielen eingeübt. Wird man angesprochen oder etwas gefragt, ist es ratsam, freundlich, aber bestimmt Distanz zu wahren und seinem Gegenüber von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, sprich ihm nicht den Rücken zuzuwenden, wenn man ihm z.B. die Richtung zeigen will. „Das sind kleine Gesten, die große Wirkung haben und die man sich ohne weiteres antrainieren kann. Genau wie eine entsprechende Körperhaltung, die signalisiert: Stopp, bis hier und nicht weiter“, so Steffen. Für den Fall der Fälle werden aber auch handgreiflichere Möglichkeiten gezeigt, die im Übrigen sowohl für jüngere als auch ältere Menschen geeignet sind: mit dem Ellenbogen in den Bauch oder mit dem Kopf nach hinten dem Angreifer ins Gesicht schlagen, fest auf den oberen, empfindlichen Teil vom Fuß treten, kratzen, beißen, laut schreien und auf sich aufmerksam machen – erlaubt ist, was hilft. Auch die richtigen Falltechniken werden vermittelt, damit man sich, falls man doch einmal zu Boden geht, so wenig wie möglich verletzt.
Besonders interessant für gehbeeinträchtigte Senioren ist die sogenannte „canne défense“, deren Prinzipien ebenfalls gezeigt werden. Ein Geh- oder Spazierstock, im Zweifelsfall tut’s auch ein Regenschirm, birgt nämlich ungeahnte Möglichkeiten der Selbstverteidigung. Wichtig ist es, sich diese Techniken nicht nur theoretisch vorzustellen, sondern real zu erproben und die eigene Hemmschwelle zu überwinden. „Die meisten von uns sind von Natur aus nicht aggressiv und dementsprechend auch nicht unbedingt gewohnt, solche Mittel anzuwenden. Demjenigen, der uns angreift, sind solche Überlegungen jedoch fremd. Er hat die Entscheidung getroffen, jemanden zu überfallen, also auch keine Hemmungen, dabei Gewalt anzuwenden“, sagt Marcel Steffen. Was immer geht, ist der nicht ganz ernst gemeinte, aber umso effizientere „EKG-Griff“, oder anders ausgedrückt, „Eier-Kontroll-Griff“: „Auch das wird in entsprechenden Übungen simuliert, wobei wir als potentielle Angreifer entsprechende Schutzvorrichtungen tragen, denn die Teilnehmer, und hier vor allem die Damen, sollen ja lernen, kräftig zuzutreten oder zu schlagen. Nach anfänglichem Zögern tun die meisten von ihnen das auch."
Bei allen Angriffen, und insbesondere in Extremsituationen wie z.B. einer Messerattacke, wird jedoch dazu geraten, dem Täter Handy, Handtasche oder Portemonnaie so schnell wie möglich auszuhändigen. Schließlich hat die eigene Gesundheit oder das eigene Leben mehr Wert als alles andere. Dennoch verhilft schon allein das Wissen, dass man aufgrund seines fortgeschritteneren Alters Aggressoren nicht automatisch hilflos ausgeliefert ist, oft schon zu neuem Selbstbewusstsein. Die durchweg positiven Rückmeldungen der Senioren, dass sie z.B. sich in der Öffentlichkeit seither anders bewegen und verhalten, zeigen, dass dies der richtige Weg ist. Zumal die Kurse trotz des ernsten Themas immer in einer lockeren Atmosphäre stattfinden, in der auch viel gelacht wird. „Uns geht es vor allem um die Stärkung der eigenen Haltung und des Selbstwertgefühls, das vermitteln wir allen Teilnehmern, gleich welchen Alters“, sagt Marcel Steffen. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der Gewalt immer mehr zum Thema wird, gleichzeitig wollen wir aber nicht dazu aufrufen, dass jeder zum potentiellen Schläger wird. Unsere Botschaft ist vielmehr, nicht wegzuschauen und im Notfall auch die Polizei zu rufen. Täter mögen keine Aufmerksamkeit und das kann einen unter Umständen ebenfalls schützen.“